Theoretisches Wissen vs. Handwerk im Unterricht - ein polarisierendes Beispiel
Stellen Sie sich zwei Bäcker vor. Der eine weiss alles über Brot und dessen Zubereitung. Er hat zwei Dutzend Bücher über sämtliche Brotsorten und dessen Zubereitung verfasst; er weiss also so ziemlich alles über das perfekte Brot. Bei der Verkostung seines Brotes stellt man aber verwundert fest, dass es nicht wirklich schmeckt und an seiner Beschreibung des perfekten Brotes in keiner Weise nahekommt.
Der andere Bäcker hat sein Leben lang Brot gemacht. Er kennt sein Handwerk aus der Erfahrung und bäckt unglaublich gutes Brot. Durch das Machen, die gewonnenen Erfahrungen und das stetige, neugierige Ausprobieren und Verbessern hat er sein Handwerk über die Jahre effektiv gelernt, perfektioniert und ist schliesslich ein Meister seines Faches geworden.
Bei welchem Bäcker würden Sie Ihr Brot kaufen?
Wie so oft liegt die viel gepriesene Wahrheit irgendwo in der Mitte. Aufs Singen übertragen bedeutet dies für uns: Ohne ein gutes Mass an Fachwissen über die Abläufe im menschlichen Körper während des Singens, über Kenntnisse der Physiologie des Stimmapparates, über Stütze, Maske, Kopf- oder Bruststimme, Register und wie die vielen, vielen eleganten (mehr oder weniger aussagekräftigen) Begriffe auch alle heissen, fehlt sicher etwas fürs bewusstere Singen. Aber dieses Wissen ist in erster Linie und v.a. zu Beginn Sache des verantwortungsvollen Lehrers. Der Schüler soll seine eigenen Erfahrungen machen können, ohne mit theoretischen Begriffen erstickt und damit blockiert zu werden. Der Atem muss fliessen – theoretische Gedanken stoppen diesen sehr schnell. Was mit dem Intellekt häufig schon längst klar ist (Faktenwissen z.B. über einen bestimmten Vorgang), muss beim Tun dann gar nicht so klar sein.
Singen ist für uns nichts ‚Abgehobenes‘, 'Verkopftes'; es ist viel mehr ein wunderbares Handwerk. Durch das Tun entfaltet sich die Stimme. Daher legen wir in unserem Unterricht weniger Wert auf Definitionen und endlose, theoretische Erklärungen über Dinge wie Vokalausgleich, Stimmsitz, Stütze usw. Unsere Schüler sollen v.a. durchs Tun und Machen ihr eigenes Singen entdecken.
Selbstverständlich sind alle diese Begriffe immer auch Bestandteil des Tuns. Es ist Aufgabe der Lehrperson diesbezüglich ein Gleichgewicht im Unterricht zu finden, d.h. so viel theoretische Informationen zu geben, wie es für den Lernenden individuell nötig ist, um die nächsten Lernschritte ermöglichen zu können. Mit dem Wissen allein ist es bei einer praktischen Tätigkeit noch lange nicht getan! Es versteht sich aber von selbst, dass z.B. ein Gesangsstudent, der ein Lehrdiplom anstrebt und später auch unterrichten wird, die Vorgänge beim Singen auch theoretisch genau verstehen muss und beim Namen nennen kann, damit er seinen Unterricht auf einer professionellen Basis aufbauen kann.
Neben diesem Fachwissen zeichnet sich ein guter Lehrer durch Intuition, Einfühlungsvermögen (und damit ein echtes Interesse am Menschen), ein gutes Ohr, Musikalität und v.a. durch eigenes Können aus. Darüber hinaus soll er den Schüler befähigen, dass dieser nach und nach sein eigener Lehrer werden kann und damit in keine Lehrerabhängigkeit gerät.
Wir sind bestrebt, dieses Unterrichtsideal in die Tat umzusetzen.
Thomas Leu
Leiter Gesangsschule Vocal, Voice & Art
Anmerkung:
Der Einfachheit halber und zur besseren Lesbarkeit wurde in diesem Text ausschliesslich die männliche Form verwendet. Wenn also z.B. vom Schüler die Rede ist, ist selbstverständlich auch immer die Schülerin gemeint.